Wir hatten dem Wirt der Tibet Lodge auf dem Stilfser Joch von unserer Tour erzählt. Das hat ihm wohl gefallen. Als wir ihn fragten, wie wir denn ganz früh, bereits vor dem ersten Bus runter Richtung Tal kommen könnten, wusste er schon wie: denn um acht bringt ein Bike Shuttle Bus Moutainbiker hier hoch, die dann ihre Touren von hier oben über die Grate starten. Mit dem könnten wir mit runter fahren. Und wir hatten Glück. Wir konnten nicht nur mit, der Fahrer kannte nicht nur die oft gerade bei Gegenverkehr engen Kurven. Er ist wohl bereits 700mal die Stilfser Joch Passstraße mit den über 50 Serpentinen hoch und runter gefahren – mit seinem 9 Sitzer Bus und einem langen Radanhänger hinten dran.
Ansonsten fährt er auch die Kinder der umliegenden höheren Dörfer für die Gemeinden zur Schule. Er ist nicht nur ein guter Fahrer, er ist auch ein wandelndes Vinschgauer Geschichtsbuch. Er erzählte vom Stromhunger der Industrien in Mailand, weshalb Südtirol mit seiner Wasserkraft für Italien immer schon von besonderer Bedeutung war. Er zeigte uns im Tal unten die Bunker, die Mussolini als Schutz vor Hitler bauen ließ. Der Bunkerbau wurde eingestellt, als das durch die deutsche Spionage bekannt wurde. Erst nach dem Krieg wurden diese dann von der NATO (!) fertiggestellt. Warum, bleibt deren Geheimnis. Heute sind die Gebäude, die wegen der dicken Betonwände zu teuer zum Abreissen sind, meistenteils privatisiert. Er selber ist seit 11 Jahren in Rente, er könne nicht nicht arbeiten, er habe nicht einen Tag auf der Arbeit gefehlt. Er müsse ein Ziel haben. Ich sage, man könne zum Beispiel als Ziel ja auch eine lange Wanderung machen. Er schaut mich an, als wäre ihm der Gedanke nie gekommen. Er fährt uns sogar bis zum Bahnhof in Mals, von wo aus wir später weiter in die Schweiz fahren werden.
Warum gerade Mals? Der Ort hat eine gewisse Berühmtheit erlangt, es gibt sogar einen Film darüber. Mals als Gemeinde im Oberen Vinschgau ist Winden ausgesetzt, die die im Apfelanbau Südtirols verwendeten Pestizide hier oben weitum verteilen. Außerdem haben die steigenden Temperaturen und die künstliche Bewässerung (Oberkronenberegnung) den Obstanbau auch in der Höhe des Oberen Vinschgaus möglich gemacht. Lukrativere Einnahmen bei gleichzeitig durch Spekulation verteuerten Bodenpreisen drängen viele Bauern in den Obstanbau oder zum Verkauf ihrer Güter, auch an ortsfremde Spekulanten. Noch mehr Einsatz von Pestiziden, ein eklatanter Artenrückgang, eine komplette Veränderung des Bewässerungssystems mit gravierenden Zukunftsfolgen, denn perspektivisch wird Wasser auch hier oben weniger werden. Einer Bürgerinitiative aus der Malser Gegend ist es gelungen, eine Volksabstimmung zum Verbot von Pestiziden im August 2014 durchzuführen. Knapp 70% der Wahlberechtigten stimmten ab, davon stimmten über 75% für eine pestizidfreie Gemeinde Mals. Ein unglaublicher demokratischer Erfolg! Zwar ermöglichten erst neue Gemeinderatswahlen im Mai 2015 mit entsprechenden Mehrheiten die Umsetzung. Dann aber führte der Malser Gemeinderat einstimmig die neuen Abstandsbestimmungen zum Pestizideinsatz ein. Damit wäre defacto der Einsatz von Pestiziden verhindert gewesen. Als nächstes wurde jedoch die Zuständigkeit einer Gemeinde in solchen Fragen abgestritten. Die Initiative ist jetzt auf der Suche nach Präzedenzfällen in Europa. Parallel trieb die BI inzwischen mit der Gründung der Bürgergenossenschaft „da“ und der „Sozialgenossenschaft“ „vinterra“ auf vielen Ebenen die Transformation in eine gemeinwohlorientierte Entwicklung in Mals und im Oberen Vinschgau voran. Es gibt eine große Unterstützung in der Bevölkerung. Wir trafen in Mals kurz den Apotheker Johannes Fragner-Unterpertinger. Zu mehr als einem kurzen Händeschütteln hat unsere Zeit (und auch seine) leider nicht gereicht. Johannes alias Hans Perting (er ist auch Autor und schreibt unter diesem Pseudonym) ist einer der Haupttreiber der Entwicklung des Malser Weges. Er und einige andere sind lange Zeit unter einem hohen rechtlichen Druck gestanden, der unter anderem durch Südtirols mächtigsten Bauernverband, der Obstbauernlobby, auf sie ausgeübt wurde. Inzwischen sind aber auch zahlreiche örtliche Umweltorganisationen und mittlerweile auch 32 Lebensmittel produzierende Betriebe des Vinschgaus über die Bürgergenossenschaft vernetzt.

Für die detallierte Darstellung gibt es im Internet eine meiner Meinung nach sehr umfassende und sehr gut erklärende Arbeit von Carolin Holtkamp: „Der Malser Weg: Geschichte einer sozialen Bewegung für Demokratie und nachhaltige Regionalentwicklung.“ Als Creative Common in der Bibliothek der Uni Kassel im Netz nachzulesen, wirklich sehr spannend. Uns interessiert hier die Idee der Gemeinwohlorientierung und des Allmendegedankens, die wir als zentral für eine positive, demokratische Zukunftsgestaltung sehen. Das gilt in den Bergen und anderswo.
Nach zwei Stunden Aufenthalt in Mals haben wir dann mit dem Schweizer Postbus über den Reschenpass unsere Rückfahrt fortgesetzt, von hieraus weiter mit dem Zug, um ca 21.30Uhr waren wir in Mannheim und unsere Reise beendet. Ein (erstes ) Resümee der Reise folgt!